Erinnerungen an Hedwig
Dienstantritt in Hedwig:
Als Sudetendeutsche erhielt ich nach meinem Abitur 1931 in Prag meine erste Anstellung in der Unterzips in Niederemetzenseifen, Schulamt Kaschau (Kosice). Dort lernte ich den Lehrer Leo B. kennen. Wir heirateten 1932, 1933 wurde Tochter Christel geboren. Mich versetzte man nun an die 18-klassige staatliche Volksschule nach Zips. Bela, Schulamt Käsmark (Kezmarok). Mein Mann bekam eine staatliche Stelle in Stoß, Unterzips zugewiesen. So lebten wir zwei Jahre getrennt.
In der Oberzips konnten wir als Lehrerehepaar in absehbarer Zeit nicht angestellt werden. Daß wir nach Hedwig kamen, von dem wir so gut wie gar nichts wußten, hatten also familiäre Gründe. Wir richteten deshalb ein Gesuch an das Ministerium in Preßburg (Bratislava), uns unter diesem Aspekt zu versetzen.
Der Bescheid kam umgehend. In Hedwig wären zwei Klassen neu zu besetzen, da die Schülerzahl sehr stark anggewachsen sei. Ehrlicherweise wurde uns nicht verschwiegen, dass der Ort ein früherer Strafposten war. Wir sollten uns alles ansehen und überlegen. Ohne uns überhaupt zu informieren, nahmen wir an. Mein Mann meinte, auch diese Kinder brauchen einen Lehrer.
Unser Vorgänger, Kollege Paulowitsch aus Preßburg (Bratislava), holte uns vom Bahnhof Turz-Sankt Martin (Turciansky Sväty-Martin) mit einem alten Tatra-Taxi ab. In Windisch-Proben (Slovensko Pravnè) wartete der Kriegsinvalide Stenzel mit einem Wägelchen auf uns. Wir luden unsere weinigen Habseligkeiten auf und über einen schlechten Feldweg ging es unserer selbstgewählten Heimat entgegen.
Der erste Schock war bald überwunden. Wir waren jung und zuversichtlich. Da wir beide passionierte Jäger waren und von der Gegend beeindruckt, lebten wir uns bald ein. Zu dem Gebiet gehörte auch die Nachbargemeinde Bries, in der meine Schwester Ada Kraus von 1936 bis 1938 schulisch tätig war. Sie vertrat die Stelle des Kollegen Neuhedl, der den Militärdienst ableistete.
Hedwig hatte, als wir 1935 einzogen, laut Gemeindekartei 526 Einwohner.
Besiedlung des Tales:
Rätselhaft ist die Ansiedlung in diesem unwirtschaftlichen Tal, das von Höhen eingeschlossen und nur gegen die slowakische Seite hin offen ist. Hedwig und Bries waren eingebvettet in ein großes Waldgebiet an der Westseite des breiten Turctales. Ein Gebirgskamm trennt die beiden Gemeinden von der Deutsch-Probener Sprachinsel. Sicher ist, dass sich in dem schwer zugänlichen Tal, nach Vetter Giereths Angaben, sieben Familien angesiedelt hatten. Er nannte die Namen Stenzel, Kaltwasser, Tenzer, Giereth, Palesch, Mendel, und Hogh. Michael Tenzer weiß noch von drei Siedlern zu berichten, die wahrscheinlich später zugezogen sind. Lienert, Bausch und Retlich. Ich kann mich dunkel erinnen, eine Balisch ist mir allerdings unbekannt.
Hedwig soll ungefährt 1340 in Gründen angelegt worden sein. Jede Sippe für sich.
Die ersten Siedler betrieben angeblich Bergbau. Sie förderten Zinn und Kupfer. Als die Stollen nichts mehr hergaben, stellten sich die Bevölkerung auf Landwirtschaft um. Doch die steinigen Äcker brachten auch nur geringe Erträge.
Eine Kuriosität in Hedwig war eine jüdische Familie, die eine Bauernwirtschaft betrieb, allerdings nicht sehr intensiv. Die Domäne des Juden war Handel und der Betrieb von Wirtshäusern, nicht aber das Handwerk und die Landwirtschaft. Ein Wirtshaus soll ja ursprünlich auch als Wohnhaus des jüdischen Hofes gewesen sein, erzählten die alten Leute. Der Besitzer trug den in der Mittelslowakei häufigen Familienname Kohn. Die Kinder Karl und Frieda waren unsere Schüler.
Die Leute erzählten, der Gastwirt hätte den in Not geratenen Hedwigern gegen Überschreiben von Liegenschaften Geld geliehen. Konnte die Schuld zum vereinbarten Rückgabetermin nicht bezahlt werden, so verfiehlen die gepfändeten Felder an den Juden. Die Familie Kohn siedelte 1937 nach Israel über. Wann die Juden sich in dem Tal angesiedelt hatten, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Am Ende des Dorfes hatte eine Zigeunerfamilie ihre Behausung. Sie verdiente sich mit Gelegenheits- und Schmiedearbeiten ihren Lebensunterhalt. Die Zigeuner gaben nie Anlaß zu Klagen.
Auch in Bries lebte ein Zigeuner am Dorfende. Er hieß Franz und war nie nüchtern.
Bauweise und Wohnkultur:
Die Schindelgedeckten Häuser im Ort waren durchwegs eingeschossige Holzblockbauten, ebenso die Schule. Sie standen gruppenweise längs des Dorfbaches und waren weitgehend einheitlich und altertümlich. Sie entsprachen den Höfen (Gründen, Hufen), wie sie wohl schon vor der Mitte des 14. Jahrhundersts (1340) angelegt worden waren, jede Sippe für sich.
In vielen der Häuser gab es noch Lehmgestampfte Fußböden, die öfter mit frischem Sand bestreut wurden. Ebenso hatten viele Haushalte noch die schwarzen Küchen. Über dem flackernden Herdfeuer stand auf einem Dreifuß der Kessel zum Kochen und Wärmen des Wassers. An den rauchgeschwärzten Wänden hingen die Gebrauchsgegenstände wie Kellen, kleine Schaufeln, Schüsseln, Spieße, große Löffel, Gabeln und was sonst zum Kochen gebraucht wurde. Die Wohnungen waren trotz Lehmboden und schwarzer Küche meist sauber und gemütlich.
In manchen Wohnungen fing man an, Bretterfußböden zu legen und gemauerte Öfen aufzustellen.
Ernährung der Bevölkerung:
Was die Leute zum Leben brauchten, produzierten sie selbst. Sie brauchten bei ihrer notgedrungenen Bescheidenheit nicht viel. Brot war Nahrungsmittel, das nicht jeden Tag auf den Tisch kam.
Ebenso war Geld Mangelware. Zum Verkaufen hatten die Hedwiger herzlich wenig. Was wir genügend bekamen waren Eier, hie und da auch lebendes Federvieh. Eines Tages brachte uns eine Frau aus dem Oberort eine kleine Henne, die sehr schwach war. Leo, mein Mann wollte sie am nächsten Tag schlachten. Doch da lag ein Ei im Nest. Bis zum Herbst brachte sie es auf über 50 Eier. Dann starb die Henne plötzlich eines natürichen Todes.
Die Felder wurden die die konequente Erbteilung immer kleiner, sodass an eine intensive Bewirtschaftung nicht zu denken war. Den Mist zum Düngen trugen die Frauen in Holzbutten auf dem Rücken die steilen Hänge hinauf.
Angebaut wurde hauptsächlich Hafer für das Vieh und Roggen für Mehl. Die Hauptnahrung der Bevölkerung aber bildeten Kartoffel, Gemüse, Bohnen und Linsen.
Es wurden auch einige Schafe gehalten, die den Fleischbedarf deckten, hauptsächlich bei Festen wie Hochzeiten oder Taufen. Die Wolle wurde selbst verarbeitet.
Die Kartoffelfelder mussten im Herbst bewacht werden, da das Schwarzwild meist großen Schaden anrichtete. Die Bauern saßen mit Lärmgeräten an den Feldrändern, sie stellten Laternen in die Äcker. Der karge Boden trug ohnedies wenig Frucht.
Für Grünfutter sorgten die kümmerlichen Ersparsettfelder, die oft jahrelang nicht gedüngt wurden. Das kleinwüchsige Vieh trieben die Schulkinder am Morgen auf die Weide ins "Gestein". Sie kamen oft hungrig und unausgeschlafen in die Schule.
Schwierige Schulverhältnisse:
Die Schule war 1935 dreiklassig geworden, doch stand nur ein Klassenlehrer zur
Verfügung. Da war guter Rat teuer.
Der Unterricht mußte in drei Unterrichtszeiten eingeteilt werden:
von 8 Uhr - 10 Uhr, von 10 Uhr - 13 Uhr und von 14 Uhr - 17 Uhr. Dass es so auf Dauer nicht weitergehen konnte, sahen wir ein. Im Dorf war kein geeigneter Raum, der als Klassenzimmer hätte genutzt werden können.
Eines Tages erschienen zwei Ministerialbeamte aus Preßburg (Bratislava) und unterbreiteten uns einen Plan.
Sie würden uns eine Schule bauen, mit den nötigen Klassenräumen und Lehrerwohnung.
Allerdings würde es keine deutsche Schule mehr sein. Die Kinder müssten ab der ersten Klasse auf slowakisch unterrichtet werden. Die jetztigen Schüler könnten ihre Schulzeit noch auf deutsch beenden. Mein Mann könne die Leitung der Schule übernehmen, da sie bereits festellen konnten, dass er einwandfreies slowakisch sprach.
"Geben Sie uns bald Bescheid. Auf Wiedersehen!"
Wir blieben in einer fürchterlichen Stimmung zurück. Woher schnell einen zweiten Klassenraum nehmen!? Unter unserer Leitung durfte die deutsche Schule nicht verloren gehen!
In der Nacht hatte ich eine rettenden Gedanken. Da wir an unseren ersten Dienstorten immer möbiliert gewohnt hatten, so hatten wir auch keine Möbel, den man wußte nie, wie lange man bei dem herrschenden Lehrermangel an einem Dienstort bleiben konnte. Wir hatten in Hedwig in der Schule zwei Räume noch nicht genutzt. Als mein Mann früh vom Schwarzwildansatz zurückkam, war das Werk vollbracht. Ein Maurer hatte die Mittelwand zwischen Wohn- und Schlafzimmer entfernt. So war ein großer Klassenraum geschaffen. Die deutsche Schule war gerettet.
Unterrichtshilfe:
Mit den Namen der über 160 Schüler hatten wir unsere liebe Not. Als Familiennamen kamen mit wenigen Ausnahmen die Hofnamen in Betracht. Obendrein gab es nur wenig gebräuchliche Vornamen. So gab es oft in einer Klasse 6 Kinder die Anna hießen, 4 Josef, 3 Emilie und 5 Johann.
Wir halfen uns nun, indem wir die Kinder mit den Taufnamen in Verbindung mit der Hausnummer aufriefen, also Anna 42, Josef 19, Georg 32 usw.
Es funktionierte reibungslos. Es stand jeweils immer ein Schüler auf. Das Problem war gelöst.
Unsere Wohnung/Einrichtung:
Uns allerdings blieb kaum Wohnraum übrig. Eine Küche mit ungefähr 16 qm und eine Kammer mit 6 qm war nun unsere Wohnung bis 1940.
Für die Kammer zimmerte uns ein Tischler ein großes Kastenbett mit Lade und ein großes Kinderbett. Das Schlafzimmer war fertig.
Ein großer Schrank stand auf dem Flur, der unsere notwendigste Kleidung für Schule und Jagd enthielt.
In der Küche sorgte ein großer Lehmherd für Wärme und Gemütlichkeit. Im extrem kalten Winternächten schliefen unsere Kinder sogar auf der Oberfläche des Ofens, den die Kammer war nicht heizbar.
Kollege Pfeiffermann, ein Preßburger, war sehr geschickt und bastelte mit Leo aus alten Schulbänken Regale für Bücher und Schulbdarf. In kurzer Zeit entstanden ein massiver Tisch, mehrer Hocker und Sitzgelegenheiten. Mein Arbeitsplatz war ein 2,5m lange, sehr breite Bank. Unsere Wohnung war nun fertig möbiliert.
Durch eine Falltüre im Küchenboden konnte man auf einer 2m langen Leiter in der Keller hinabsteigen. Dort wurden unsere wertvollen Vorräte aufbewahrt.
Verpflegung der Kollegen:
Da im Ort keine Möglichkeit war, sich eine Mahlzeit zu kaufen, musste ich den jeweiligen Kollegen mit verköstigen. Er war also bei uns in "Vollpension". Er kam früh um 7 Uhr und
ging abends sehr spät heim. Sein Zimmer war im Unterort bei einer Frau Mendel. Er gehörte sozusagen zu unserer Familie.
Einmal wöchentlich ging mein Mann mit Rucksack nach Slo. Proben, um das nötigste an Verpflegung einzukaufen. In Slow. Proben gab es einen Kaufladen, eine Bäckerei und eine Fleischerei.
In Bries wurde dann eine kleine Rast bei meiner Schwester und dem Kollegen gemacht und die neuesten Nachrichten wurden ausgetauscht.
Stenzel im Unterort fuhr mit seinem Gespann, voran sein alter Militärgual, einige Mal im Jahr nach Slow. Proben und holte Dinge, die im jedem Haushalt dringend gebraucht wurden:
Petroleum, Kerzen, Essig, Salz, Tabak, Nähzeug, Zündhölzer und andere Kleinigkeiten, manchmal auch ein Fäßchen Bier. Das alles wurde in seiner Stube verkauft.
Jede Woche musste ein Dorfbewohner mit der "Kabsa" nach Slowensko-Proben gehen und die Post abholen.
Die Wegverhältnisse:
Die waren denkbar die schlechtesten, wirklich gut begehbare Wege gab es überhaupt nicht.
Auf den schlechten Wegen waren nicht einmal Fahrräder einsetzbar, alles musste zu Fuß bewältigt werden.
Der Weg nach Slowensko-Proben war nur bei trockenem Wetter begehbar. Nach Bries führte ein 2 km steiniger Feldweg. Nach Münchwies führte auch nur ein steiniger Waldweg.
Wollte man nach Deutsch-Proben, so mußte man über den vorgelarten Gebirgsrücken auf einen felsigen Gebirgssteig hinab nach Beneschhau und weiter auf einem holprigen Fahrweg nach Deutsch-Proben.
Trockenen Fußes kam man auf einem grasigen Waldweg in den Nachbarort Gaidel. Von dort führte eine gut ausgebauter Strasse nach Deutsch-Proben, dem Mittelpunkt der deutschen Sprachinsel.
Dort trafen wir uns alle paar Wochen mit unseren Kollegen aus den Nachbardörfern.
Es waren alles Sudetendeutsche.